Gastbeitrag: Was mich meine Katze lehrt

Gastbeitrag: Was mich meine Katze lehrt

25. Januar 2023 0 Von Admin

Von Stephan Zengerle

Ein wenig frische Luft tut immer gut. Vor allem kühle Nachtluft nach einem sehr langen Arbeitstag. Es regnet leicht, aber das stört Amelie nicht wirklich. Sie sitzt auf dem mitternächtlich erleuchteten Weg und blickt ein wenig ängstlich links und rechts in das unbekannte Revier. Es ist Geisterstunde, und niemanden sonst zieht es in dieser nasskalten Spätnovembernacht hinaus – nur meine Katze hat beschlossen, mal wieder mit mir Gassi zu gehen. Immer wieder muss ich innehalten und warten, bis sie mir mit Trippelschritten hinterherkommt und dann um meine Füße streift.

Zugegeben, das schmeichelt mir nicht nur im wahrsten Sinne des Wortes, sondern auch, dass sie mir ver- und sich mit mir immer tiefer in fremde Reviere hineintraut. Denn Amelie ist eine ängstliche Katze, und hier waren wir noch nie gemeinsam. Von den Revierinhabern und sonstigen Feinden aber ist heute Nacht nichts zu sehen – auch denen kriecht der nasskalte Regen im Licht der LED-Beleuchtung auf dem kleinen Weg an der Altmühl wohl ins Fell. Energiesparen ist angesagt, denke ich mit Blick auf die Energiesparlampen und die schwarzen Umrisse der derzeit nicht beleuchteten Eichstätter Willibaldsburg.

Wie mag das wohl früher gewesen sein, in früheren Jahrhunderten, als nächtliche Reisende höchstens mit flackernden Lampen rechnen konnten? Das Leben war dunkler, härter, direkter, ursprünglicher – aber irgendwie auch einfacher, denke ich, während Amelie sich entschlossen hat nach eingehender Beobachtung die nächste Etappe hinter mir herzutrippeln. Ihre Augen leuchten im Halbdunkel am Wegesrand. Es ist schön, ihr einfach nur zuzuschauen, und irgendwie beruhigend, zu wissen, dass sie nach vielen gemeinsamen Jahren auch weiter meine sanfte Gefährtin auf Samtpfoten sein wird. Dass sie mich immer wieder aufs Neue zu ihren täglichen Ritualen einlädt. Ein Fixpunkt in einer immer schnelleren, unberechenbareren Welt.

Das weiche, wenn auch gerade nasse, Fell der Katze gibt es nicht digital …

In einer Welt, die an vielen Stellen aus den Fugen geraten zu sein scheint, sehnen sich viele Menschen wieder nach diesem Gefühl eines einfachen Lebens. Oft denkt man das nicht so klar, und bewusst. Es ist eher diese permanente innere Unruhe, die unentwegte aufmerksamkeitsheischende Dauersensationsschleife der sozialen Medien und der digitalen Informations- und Desinformationsgesellschaft, die schon Erwachsene überfordert und bei Kindern Ruhe und Konzentrationsfähigkeit bedroht. So viele suchen Aufmerksamkeit und Bestätigung in digitalen Posts. Aber bedeutet ein echtes Gespräch nicht viel mehr als so ein flüchtiges Internetgetuschel? Das weiche, wenn auch gerade nasse, Fell der Katze gibt es nicht digital …

Den kühlen Regen auf meinem Gesicht zu spüren, tut gut. Ich muss an das Leid von Millionen von Ukrainern denken, denen gerade weit kälter ist, denen von erbarmungslosen russischen Besatzern die Energieversorgung weggebombt worden ist, die um ihre Lieben an der Front bangen. So weit weg, und doch inmitten all der Aufgeregtheit einer globalisierten Nachrichtenwelt auch so nah. Es ist manchen zu viel, dieses komplizierte Leben in der vernetzten, vollen Welt, auf der seit Kurzem offiziell mehr als acht Milliarden Menschen leben – alle mit ihren eigenen Problemen.

Manche von ihnen stehen gerade morgens auf, andere schlafen noch, wieder andere machen gerade noch einen kurzen Nachtspaziergang, bevor sie ins Bett gehen, wie ich gerade – denke ich. Auf einem so vollen Planeten ist das ziemlich wahrscheinlich, dass ich nur einer von vielen bin – auch wenn es hier fast schon seltsam still ist in dieser Sonntagsnacht mit Katze.

Brauchen wir denn all diese Aufgeregtheit, dieses tagtägliche digitale „ich bin wichtig“? Dieses Dauermarketing, wie Fußballfans es nicht nur bei der Eröffnung der Fußballweltmeisterschaft in Katar schon beinahe peinlich entlarvend erleben mussten? Was machen die russischen Lügen, die Kriegs- und all die andere Propaganda mit uns? Abschottung ist für viele Menschen eine natürliche Reaktion darauf: Die Abkoppelung von dieser scheinbar verrückt gewordenen Welt. Grenzen zu, und die Welt ist vermeintlich wieder in Ordnung.

Nicht zufrieden mit dem einfachen Leben

Nein, denke ich, das kann es nicht sein, und muss in der kalten Winternacht an die lauen Abende vor Kurzem in Italien und Mexiko denken, wo ich meine Katze vermisst habe. Dafür habe ich viele freundliche, neugierige, humorvolle, interessante Menschen gefunden – mit wachen Augen und aktiven Lachfalten. Es ging um Dokumentarfilmdrehs über Wissenschaftsprojekte, und es war einmal mehr erfüllend, Neues über archäologische Forschung und andere Kulturen zu erfahren – das frühe Christentum im Mittelmeerraum und ein Maya-Massengrab.

Vielleicht waren wir Menschen einfach schon immer so, denke ich – wollten zu viel, wollten wichtig, mächtig und besonders sein, haben Konflikte begonnen, ohne an Konsequenzen für andere zu denken. Haben uns von Propaganda, Angst, Wut und negativen Gefühlen manipulieren lassen, statt auf Fakten zu hören. Waren eben nicht zufrieden mit dem einfachen Leben.

Erwartungsvoll blickt Amelie mich an einer Hecke am Wegesrand an. Dort zweigt der Weg zurück nach Hause ab. Als ich tatsächlich abbiege, läuft sie zum ersten Mal heute vor mir her. Nach der nasskalten Gassirunde will sie zurück aufs Sofa – und auf meinen Schoß. Am Tisch brennt eine Kerze. Fühlt sich fast ein wenig an wie Weihnachten. Auf jedem Fall aber nach einfachem Leben. Gut so.